Investitions- und Aufwertungsprozesse in ethnischen Quartieren deutscher Großstädte : Formen, Akteure/innen und Hintergründe
- Investment and revaluation processes in ethnic quarters of major German cities : Forms, actors and backgrounds
Çelik, Mehmet; Pfaffenbach, Carmella Diana (Thesis advisor); Breckner, Ingrid (Thesis advisor)
Aachen (2019, 2020)
Doktorarbeit
Dissertation, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen, 2019
Kurzfassung
Migrantenviertel, ethnische Quartiere, Kolonien, Ghettos sind viele Bezeichnungen für das stadträumliche Segregationsphänomen der Herausbildung von städtischen Räumen, in denen sich bestimmte Migrantengruppen in deutschen Großstädten konzentrieren. In gesellschaftlichen oder politischen Debatten, aber auch in der Wissenschaft, sind diese Stadträume meist negativ konnotiert. Durch die Anwesenheit von Migranten/innen wird das Viertel sowohl sozial als auch baulich als abgewertet angesehen. Gründerzeitliche Gebäude verkommen, Geschäfte stehen leer, es gibt einen negativen Imagewandel. Der Großteil ist sich mehr oder weniger einig: die migrantische Konzentration in einem Stadtteil ist mit einer massiven Abwertung gleichzusetzen. Städte oder Stadtquartiere sind jedoch dynamische Gebilde, die ständigen Änderungen unterliegen. Dies betrifft natürlich nicht nur Räume, sondern auch soziale und gesellschaftliche Aspekte. Insbesondere in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren sind in ethnischen Quartieren deutliche Änderungsprozesse zu erkennen, die mittlerweile auch in wissenschaftlichen Untersuchungen erfasst werden. Es scheint nun Migranten/innen zu geben, die finanziell stark genug sind um Wohneigentum in ethnischen Quartieren zu erwerben und in dieses zu investieren, was seit Beginn der 2000er Jahre festgestellt und untersucht wird. In einigen Forschungsarbeiten zu diesem Prozess wird eine fördernde Funktion für die Integration ermittelt (z.B. Serap Firat 2002, Patricia Bernhardt 2008), während in anderen Arbeiten (z.B. Heike Hanhörster ab 2003) sogar von einem stabilisierender Faktor in benachteiligten Quartieren gesprochen wird, um defizitäre Entwicklungen in ethnischen Vierteln entgegen zu treten. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die bisherige wissenschaftliche Betrachtung ethnischer Quartiere noch zeitgemäß ist. Die hauptsächlichen Forschungserkenntnisse zur ethnischen Segregation in Deutschland haben sich in den 1970er bis 1990er Jahren entwickelt. In wieweit sie auch aktuelle Dynamiken abdecken ist fraglich. Besonders Ergebnisse aus dem 21. Jahrhundert deuten teilweise gegenteilige Entwicklungen an, als die in der Literatur beschriebenen defizitären Prozesse und Eigenschaften in ethnischen Quartieren. In diesem Dissertationsprojekt liegt daher der Fokus auf der Untersuchung von insgesamt acht ethnischen Quartieren verschiedener Großstädte in Deutschland. Dies sind: Aachen-Elsassstraße, Köln-Keupstraße, Düsseldorf-Kölner Straße, Mülheim an der Ruhr-Eppinghofer Straße, Wiesbaden-Wellritzstraße, Hannover-Steintor, Mannheim-Quadrate G2-3, H2-3 und Nürnberg-Gostenhofer Hauptstraße. Zunächst wird erfasst, welche Formen von Investitions- und Aufwertungsprozessen es in ethnischen Quartieren gibt, wie diese aussehen, organisiert werden und welche Effekte sie auf den Raum, also das ethnische Quartier haben. Dabei wird nicht nur die Wohneigentumsbildung fokussiert, sondern jede dort getätigte Investition. Dies kann der Erwerb einer Immobilie oder eines Gewerbes sein, bauliche Investitionen wie z.B. Modernisierungen, Sanierungen betreffen oder auch soziale Aspekte umfassen, wie z.B. Gründungen von Organisationen, Veranstaltungen etc. Es wird deutlich gemacht, welche Formen und Dimensionen von Investitions- und Aufwertungsprozessen in den untersuchten ethnischen Quartieren zu erkennen sind. Aufbauend darauf wird auf die Akteure/innen und Hintergrunde hinter diesen Investitionsprozessen in ethnischen Quartieren eingegangen. Insgesamt werden hierfür einerseits allgemeine, statistische Daten zu den jeweiligen Quartieren erhoben und themenspezifisch analysiert. So entstehen Karten der entsprechenden Räume, in denen Sanierungszustand von Gebäuden und Ladenlokalen sowie Informationen zu den Akteuren/innen lokalisiert sind. Andererseits werden durch qualitative Interviews mit lokalen Akteuren/innen umfangreichere Daten ermittelt. Insbesondere durch Interviews mit lokalen, migrantischen Hausbesitzern/innen und Geschäftsinhabern/innen werden die Eigenschaften und Hintergründe der aktuellen Aufwertungsprozesse durch die Bewohner/innen genauer beleuchtet. Zusammenfassend lassen sich zwei Schlüsse aus den Ergebnissen ziehen. Einerseits lassen sich insgesamt drei Akteurstypen, ihre Investitionsformen und entsprechenden Hintergründe in ethnischen Quartieren feststellen: 1. Der Typ der sogenannten Selbstretter/innen umfasst meist Gastarbeiter/innen der ersten Generation, die im Quartier in ihr Ladenlokal investieren um es zu modernisieren, attraktivieren und die Effizienz zu steigern. Das Ladenlokal stellt dabei die Existenz- und Lebensgrundlage dar, die es aufgrund von zahlreichen negativen Erfahrungen als Gasterbeiter/in zu schützen und erhalten gilt. 2. Die Absicherer/innen sind Migranten/innen der zweiten Generation, die nun nicht mehr wie geplant im Ruhestand ins Heimatland zurückkehren möchten. Für die Zukunft sehnen sie sich daher nach Sicherheiten in Deutschland für sich selbst und ihre Kinder. Deshalb erwerben sie meist Wohnimmobilien mit Ladenlokal im Erdgeschoss. Das Gebäude dient als Mehrgenerationenhaus für den gesamten Familienverbund, der hier lebt und im Ladenlokal gemeinschaftlich arbeitet. Weitere Wohnungen sind für ein zusätzliches Einkommen teilweise vermietet. 3. Die Selbstverwirklicher/innen sind meist in Deutschland geborene Migranten/innen jüngerer, gut ausgebildeter Generationen, die Eigentum im Quartier als Anlageobjekte erwerben, um Selbstentfaltungs- und Selbstverwirklichungswünsche zu realisieren. Das Gebäude wird selten selbst genutzt, sondern dient mit seinen Mieteinnahmen als Mittel um persönliche Lebensvorstellungen zu realisieren. Andererseits wird in allen acht Untersuchungsräumen festgestellt, dass es Investitionen durch den Erwerb und die Sanierung von Gebäuden gibt, aber auch lokale Geschäfte aufgewertet werden. Ebenso kommt es zur Gründung von Vereinen und Interessenvertretungen, welche die Akteure/innen vernetzen und repräsentieren. Obwohl es zahlreiche andere Migrantengruppen im Quartier gibt, werden diese Prozesse in allen Untersuchungsräumen hauptsächlich durch türkeistämmige Menschen durchgeführt. Zwischen den acht untersuchten ethnischen Quartieren sind dabei keine größeren Unterschiede zu beobachten, weshalb von einem neuen Trend bzw. einer neuen Entwicklungsphase in ethnischen Quartieren ausgegangen werden kann. Der Abwertungstrend des Quartiers kehrt sich nun mehr oder weniger um in einen Aufwertungstrend. Die langjährigen Bewohner/innen durchlaufen einen ökonomischen Aufstieg, identifizieren sich mit ihrem Quartier als endgültige Heimat, vernetzen sich, erwerben Gebäude und investieren in diese oder modernisieren ihre Ladenlokale. Diese Ergebnisse verdeutlichen, dass der bisherige Forschungsstand zu ethnischen Quartieren nicht grundlegend falsch ist. Auch heute gibt es nach wie vor problembehaftete ethnische Quartiere mit den entsprechenden Eigenschaften. Allerdings wird auch deutlich, dass es in mehreren, unterschiedlichen ethnischen Quartieren einen relativ ähnlichen Prozess der Eigentumsbildung und Investition durch türkeistämmige Bewohner/innen gibt. Dies ist als eine neue Phase oder ein neuer Trend zu bewerten, um den der bisherige Forschungsstand ergänzt bzw. erweitert werden müsste. Die in den Quartieren festgestellten Akteurstypen zeigen gleichzeitig auch die Situation der entsprechenden Migrantengeneration in Deutschland auf. Die erste, ehemalige Gastarbeitergeneration, ist geprägt von negativen Erfahrungen und Ängsten und bemüht die Lebensgrundlage in Deutschland zu schützen. Die zweite Generation erkennt nun Deutschland als Lebensmittelpunkt an und ist bemüht hier Sicherheiten auf zu bauen. Die dritte Generation hingegen ist in Deutschland verwurzelt und integriert, nutzt die besonderen Gegebenheiten des ethnischen Quartiers zur Realisierung von persönlich-individuellen Selbstverwirklichungswünschen.
Identifikationsnummern
- DOI: 10.18154/RWTH-2020-09263
- RWTH PUBLICATIONS: RWTH-2020-09263